Im Zuge der Überarbeitung des Strommarktdesigns und der besseren Integration erneuerbarer Energien in das Niederspannungsnetz ist in den letzten Monaten eine Diskussion über die Überarbeitung der Netzentgeltsystematik entbrannt. Hintergrund ist die Diskussion, wie eine bessere Flexibilisierung der Nachfrage im Strommarkt gelingen kann, damit nicht ein volatiles Angebot auf eine unelastische Nachfrage trifft. Stattdessen streben Politik und Energiewirtschaft eine Flexibilisierung der Nachfrageseite an, damit Strom aus volatilen erneuerbaren Energien dann verbraucht wird, wenn er benötigt wird.
Einen Lösungsbaustein für eine flexiblere Nachfrage sieht die Politik in der Schaffung von Marktanreizen durch die Einführung dynamischer Netzentgelte und Tarife. Gerade in Stunden mit hoher EE-Einspeisung sollen die Verbraucher von besonders günstigen Energiepreisen und Netzentgelten profitieren und ihren Verbrauch in Stunden mit hoher Stromproduktion verlagern. Dazu wurden bereits erste Instrumente auf den Weg gebracht, wie die verpflichtende Einführung dynamischer Tarife ab 2025, die aber bereits heute am Markt verfügbar sind und langsam hochgefahren werden.
Es wird auch darüber diskutiert, ab 2024 Erleichterungen für SLP-Kunden einzuführen, die auf der Niederspannungsebene agieren. Diese Verbraucher nutzen flexible Verbrauchsgeräte wie Elektroautos oder Wärmepumpen, deren Energiebezug in Zeiten von Netzengpässen reduziert werden kann. Als Anreiz für diese Flexibilität sollen diese Kunden von einem reduzierten Netzentgelt profitieren.
Generell ist zu beobachten, dass sich die Diskussion um dynamische Marktanreize sehr stark auf SLP- und Haushaltskunden konzentriert und die Auswirkungen auf Industrieebene weniger betrachtet werden. Dabei hat der Industriestrombereich einen signifikanten Anteil am deutschen Stromverbrauch, sodass sich die Frage stellt, ob die Kunden von den neuen Regelungen profitieren können bzw. einen Anreiz haben, dynamische Netzentgelte oder Tarife zu nutzen. In diesem Blogbeitrag wollen wir uns insbesondere mit der Frage beschäftigen, was passiert, wenn (energieintensive) Industriekunden an einer Lastverschiebung teilnehmen und ob es dafür überhaupt einen Anreiz gibt. Zuvor wollen wir jedoch einen Blick auf den aktuellen regulatorischen Status Quo werfen.
Die heutige Regelung der Netzentgelte
Für den normalen Haushaltskunden ist die Abrechnung der Netznutzungsentgelte (NNE) sehr einfach, da er direkt vom Arbeitspreis abhängig ist und dafür einen Preis pro kWh bezahlt. Bei RLM-Kunden ist dies im Gegensatz zu SLP-Kunden nicht der Fall, da zusätzlich ein Leistungspreis für die Nutzung des Stromnetzes zu zahlen ist.
Hinzu kommt, dass viele Industriekunden bereits heute von reduzierten NNE profitieren. Im Fokus steht hier vor allem die Regelung des § 19 StromNEV, die eine Reduzierung bei atypischer Netznutzung oder hoher gleichmäßiger Netznutzung vorsieht. Eine atypische Netznutzung liegt vor, wenn die individuelle Jahreshöchstlast außerhalb des vom Netzbetreiber definierten Zeitfensters der Netzhöchstlast liegt, z. B. im Sommer oder nachts. Kunden erhalten dann einen Nachlass von bis zu 80 Prozent auf die Netzentgelte. Eine gleichmäßige Netznutzung liegt vor, wenn Kunden mindestens 7.000 Benutzungsstunden aufweisen. Ab einem Jahresverbrauch von zehn Gigawattstunden erhalten sie dann einen Nachlass von bis zu 80 Prozent auf die Netzentgelte. Bei mehr als 8.000 Benutzungsstunden kann der Rabatt sogar auf bis zu 90 Prozent steigen. Insgesamt sind rund 70 TWh (Stand 2021) von den beiden Regelungen betroffen, was etwa einem Drittel des Industriestroms entspricht.
Herausforderungen bei einem Wechsel auf dynamische Marktanreize
Da viele Industriekunden bereits heute von reduzierten NNE profitieren, müssen diese die Auswirkungen der NNE bzw. der dynamischen Tarife auf die aktuelle Förderung nach § 19 StromNEV berücksichtigen. Eine reine Betrachtung auf einen günstigeren Arbeitspreis ist daher nicht ausreichend, da zum einen die Auswirkungen auf die Förderung, aber auch die Auswirkungen auf den Leistungspreis berücksichtigt werden müssen. So muss sich ein Industriekunde bei einer Lastverschiebung immer die Frage stellen, ob eine Lastverschiebung Auswirkungen auf die Höhe des Leistungspreises hat.
Bei einer gleichmäßigen Netznutzung ist u. a. zu berücksichtigen, dass bei einer flexiblen Anlagenauslegung mit schwankendem Stromverbrauch und damit geringen Benutzungsstunden die Netzentgelte deutlich höher sind als bei einer Auslegung mit hohen Benutzungsstunden und damit unflexiblem Grundlastbetrieb. Bei einer atypischen Netznutzung ist u. a. zu berücksichtigen, dass bei einem Strombezug unterhalb der Spitzenlast nur der Arbeitspreis anfällt, da die Leistungszahlung durch eine andere Stunde bestimmt wird. Liegt der aktuelle Stromverbrauch jedoch bereits in der Spitzenlast, führt eine Verbrauchserhöhung zu einer höheren Leistungszahlung. Industriekunden müssen daher genau abwägen, wie sie auf dynamische Marktanreize reagieren.
Ein Rechenbeispiel aus Sicht eines Industriekunden
Welche monetären Auswirkungen eine Lastverschiebung im Industriekundenbereich für einen Industriekunden haben kann, hat z. B. Agora Energiewende in einer Studie berechnet. Im konkreten Beispiel wurden sowohl die atypische als auch die gleichmäßige Netznutzung im Stromnetz der Region Berlin untersucht.
In einem Beispiel würde der Mehrbezug von einer MWh in einer Viertelstunde im Mittelspannungsnetz zu einer Erhöhung des Leistungspreises um 240.000 € p. a. führen. Selbst wenn sich die MWh auf 100 Stunden verteilt, steigt der Leistungspreis um 600 € pro Jahr. In einem anderen Beispiel, in dem eine gleichmäßige Lasterhöhung über alle Stunden mit Spitzenlastbezug von 9 bis 17 Uhr angenommen wurde, stiegen die Kosten pro MWh von 26 € auf 46 € bei 2.920 Stunden.
In der Konsequenz wäre es für die beiden Industriekunden im Rechenbeispiel unattraktiv, eine Lastverschiebung durchzuführen, weshalb die Auswirkungen auf den Leistungspreis im Kontext dynamischer Marktanreize derzeit immer berücksichtigt werden müssten.
Reformbedarf und Perspektiven dynamischer Netzentgelte im Strommarkt
Die Rechenbeispiele zeigen, dass eine Lastverschiebung durch dynamische NNE oder Tarife für RLM-Kunden teuer werden kann. Eine Reform der NNE ist daher notwendig. Die Neuregelung im Niederspannungsnetz (§ 14a EnWG) kann hier nur ein Anfang sein. Die Reform der Netzentgelte dürfte daher ein Dauerbrenner bleiben und wird auch im Rahmen des neuen Strommarktdesigns diskutiert.
Bei Beibehaltung des derzeitigen Regulierungsrahmens könnte sich eine Entwicklung ergeben, bei der dynamische NNE und Tarife primär für SLP-Kunden interessant sind. Eine grundsätzliche Diskussion über eine Anpassung der § 19 StromNEV-Regelung ist daher notwendig, wenn alle Verbrauchsgruppen von dynamischen Marktanreizen profitieren sollen. Erste Vorschläge hierzu liegen bereits auf dem Tisch, sind aber noch nicht entschieden. So schlägt u. a. Agora Energiewende vor, dass bei Lastverschiebungen der zusätzliche Verbrauch von der Höchstlast ausgenommen oder nur anteilig berechnet werden soll.
Diskutiert werden muss aber auch, ab welcher Auslöseschwelle reduzierte Netznutzungsentgelte angeboten werden sollen. Eine Möglichkeit wäre ein Schwellenwert der potenziell abzuregelnden Last, der im Redispatch ermittelt wird. Wird der Schwellenwert überschritten, könnten die Netzbetreiber 24 h oder 48 h im Voraus für ein bestimmtes Gebiet befristet niedrigere Netzentgelte veröffentlichen.
Bei einer regionalen Begrenzung entsteht allerdings ein Zielkonflikt, der nach Ansicht von Agora Energiewende genau definiert werden muss: „Je kleiner die Regionen sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mehrverbrauch die Abregelungsmenge reduziert. Andererseits reduzieren wenige größere Regionen (z. B. das Gebiet eines Verteilnetzbetreibers) die Komplexität, was die Abrechnung der Netzentgelte erleichtert und die Transparenz über Zeitfenster mit reduzierten Entgelten erhöht.“
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es nicht ausreicht, die NNE im Arbeitspreis zu reduzieren. Vielmehr muss das Netzentgeltsystem insgesamt auf den Prüfstand gestellt und ein neues Modell entwickelt werden, in dem Arbeits- und Leistungspreise mit dynamischen Marktanreizen zusammenspielen können, ohne dass der Verbraucher finanzielle Sanktionen befürchten muss. Aus diesem Grund gehen wir davon aus, dass es 2024/25 zu einer Novellierung der Netzentgelte für die nächsten Jahre kommen wird. Die neuen Regelungen für die Niederspannung (§ 14a EnWG) waren hier nur der Anfang.