Bidirektionales Laden: Neue Geschäftsmodelle für Stadtwerke?

25. Juni 2025

Stellen Sie sich vor, Elektroautos werden nicht nur geladen, sondern auch als mobile Stromspeicher genutzt, die Energie ins Netz zurückspeisen können. So können E-Autos dabei helfen, Schwankungen im Stromnetz auszugleichen, indem sie Strom aufnehmen, wenn die Netze Schwierigkeiten haben, diesen abzutransportieren. Das ist die Vision hinter dem bidirektionalen Laden.

Ist Bidirektionales Laden zukünftig mehr als ein technisches Buzzword? Bis vor ein paar Monaten hätte ich diese Zeilen kaum in eine Tastatur tippen können, ohne einen gewissen Zweifel an einer Technikgläubigkeit, die mir suspekt erschien, den Realitätstest zu bestehen. Die meisten mir bekannten Projekte befanden sich in einer Pilotphase oder wurden in wissenschaftlichen Papieren modelliert. Ich habe meine Meinung mittlerweile geändert. Was auf den ersten Blick nach einer netten Spielerei für Technikfans klingt, könnte in meinen Augen zukünftig ein wichtiger Baustein der kommunalen Energiewende werden, der Stadtwerken neue Geschäftsmodelle eröffnet, Kundenbindung ermöglicht und dabei unterstützt, die Netze stabil zu halten.

Was ist bidirektionales Laden?

Die meiste Zeit stehen E-Autos einfach nur da – gut geladen und bereit, aber ungenutzt. Doch genau darin liegt ein enormes Potenzial: Warum nicht die gespeicherte Energie in E-Autos nutzen, nicht nur zur Fortbewegung, sondern um z.B. den eigenen Haushalt mit Strom zu versorgen, die Wärmepumpe zu unterstützen oder überschüssigen Solarstrom zwischenzuparken?

Mit anderen Worten: Bidirektionales Laden bezeichnet die Fähigkeit von Elektrofahrzeugen, nicht nur Strom aus dem Netz zu beziehen, sondern auch Energie zurückzuspeisen. Dafür gibt es mehrere Einsatzmöglichkeiten, die wir Ihnen im Folgenden vorstellen wollen:

Vehicle-to-Home (V2H)

Das E-Auto versorgt den eigenen Haushalt mit Strom. Wer clever steuert, erhöht seinen Eigenverbrauch – und senkt ganz nebenbei die Stromkosten. Das Grundprinzip: Der Strom aus der Autobatterie kann bei Bedarf ins Haus zurückgespeist werden – idealerweise dann, wenn keine Sonne scheint oder der Strom aus dem Netz besonders teuer ist. Noch effizienter wird das System, wenn das Elektroauto mit der Photovoltaikanlage auf dem Dach zusammenarbeitet: Tagsüber wird Sonnenenergie geladen, abends gezielt wieder abgegeben. Wer das intelligent steuert, erhöht nicht nur den Eigenverbrauch, sondern senkt auch spürbar die Stromkosten.

Vehicle-to-Grid (V2G)

Doch die Eigenverbrauchsoptimierung durch V2H ist nur ein Teil des Potenzials. Bidirektionales Laden kann weit mehr leisten – nicht nur für den Einzelnen, sondern für ganze Quartiere. Wenn viele Elektroautos nicht nur Energie beziehen, sondern auch ins Netz zurückspeisen, tragen sie zur Entlastung des Stromnetzes bei, gleichen Lastspitzen aus und reduzieren den Bedarf an kostenintensivem Netzausbau. Das ist die Vehicle-to-Grid Lösung. Für Stadtwerke entsteht dadurch ein völlig neues Betätigungsfeld: Sie wandeln sich vom reinen Energieversorger zum dynamischen Energiemanager, der seine Kundinnen und Kunden aktiv einbindet und durch intelligente Tarife zum Mitwirken motiviert. Voraussetzung ist ein intelligentes Lastmanagement, um Be- und Entladung auch von einer größeren Zahl von E-Autos mit Angebot und Nachfrage zu synchronisieren.

Vehicle-to-Load (V2L)

Bei dieser Lösung wird der Strom aus der Fahrzeugbatterie genutzt, um elektrische Geräte direkt zu betreiben oder aufzuladen. Auch hier fungiert der Akku des Elektroautos als mobiler Energiespeicher.
Im Gegensatz zum V2H-Prinzip, bei dem eine feste Installation im Haus erforderlich ist, ermöglicht V2L eine flexible und ortsunabhängige Nutzung der Energie. Eine zusätzliche stationäre Anlage ist nicht notwendig, da die Stromversorgung direkt über das Fahrzeug erfolgt.

Diese Variante ist besonders interessant für mobile Anwendungen, etwa bei Campingausflügen, Outdoor-Aktivitäten oder auf längeren Reisen, bei denen unabhängig vom Stromnetz elektrische Geräte betrieben werden sollen.

Technikhudelei oder Gamechanger für Stadtwerke?

Im Prinzip sind Stadtwerke bereits vorbereitet: Mit der Einführung der dynamischen Stromtarife im Januar dieses Jahres können sie KundInnen klare Preissignale zur Verfügung stellen. Die Idee: Flexible Stromtarife koppeln Verbrauch und Einspeisung an den aktuellen Börsenpreis – und belohnen NutzerInnen dafür, wenn sie ihr Fahrzeug in Zeiten hoher Netzauslastung als Mini-Speicher zur Verfügung stellen. Kombiniert mit variablen Netzentgelten im Modul 3 des §14a, also als Gegenleistung für die Steuerbarkeit bestimmter Verbrauchsanlagen, entsteht ein System, das nicht nur das Netz stabil hält, sondern auch für EndkundInnen finanzielle Anreize bietet.

Stadtwerke, die jetzt in Pilotprojekte einsteigen und ihre IT- und Tariflandschaft vorbereiten, verschaffen sich einen entscheidenden Vorsprung.

Kunden durch innovative Angebote binden

Stadtwerke können durch maßgeschneiderte Angebote die Kundenbindung stärken:
Das Beste daran? Die Chance auf echte Kundenbindung. Wer das eigene Auto über die App des Stadtwerks intelligent laden lässt, regelmäßig Rückvergütungen erhält und sich aktiv als Teil der Energiewende fühlt, der wechselt nicht so schnell den Anbieter. Mehr noch: Er oder sie wird zum Energiepartner – mit echtem Mehrwert auf beiden Seiten.

Angebote von dynamischen Tarifen, die sich an Börsenstrompreisen orientieren, ermöglichen KundInnen Kosteneinsparungen – und das natürlich auch unabhängig von bidirektionalem Laden. Bei interessanten Tarifen ist es anzunehmen, dass KundInnen diese weitererzählen – eine der wirksamsten Marketingmaßnahmen. Nicht zu vergessen ist die Tatsache, dass Elektroautos bei Stromausfällen als temporäre Energiequelle für Haushalte dienen können.

Rechenbeispiel: Familie Sonnig als Energiemanager im Alltag

Nehmen wir Familie Sonnig aus einer typischen Stadtrandlage mit Eigenheim, Solaranlage auf dem Dach, Wärmepumpe im Keller und einem E-Auto vor der Tür – ein Modellhaushalt, der so oder so ähnlich in vielen Neubaugebieten steht. Sie gehören zur Zielgruppe der „energieaffinen Prosumer“: technikoffen, preissensibel, mit Nachhaltigkeitsbewusstsein und Investitionsbereitschaft. Ideal für bidirektionales Laden.

Die Ausgangslage:

PV-Anlage: 8 kWp, Jahresertrag ca. 8.000 kWh

Eigenverbrauch bisher: ca. 30 % (ohne Speicher oder V2H)

E-Auto: 50 kWh Batterie, durchschnittlich 12.000 km/Jahr → ca. 2.000 kWh Strombedarf

Strompreis (Haushalt): Ø 32 Cent/kWh

Einspeisevergütung: ca. 8 Cent/kWh

Durch V2H und variable Tarife verändert sich das Bild:

Die Familie nutzt das E-Auto als Zwischenspeicher für den tagsüber erzeugten PV-Strom.
In den Abendstunden werden Geräte aus der Autobatterie versorgt.
Zusätzlich profitieren sie von einem dynamischen Tarif: Günstiger Strom wird nachts geladen, teurer Spitzenstrom vermieden.

Konkreter Vorteil:

Erhöhung des PV-Eigenverbrauchs von 30 % auf rund 60 %
Einsparung durch weniger Netzstrombezug: ca. 1.600 kWh × 0,32 €/kWh = 512 €
Zusätzlicher Nutzen durch Netzdienlichkeit (Lastverschiebung): Rückvergütung vom Stadtwerk möglich (z. B. 100 €/Jahr Bonus bei Teilnahme an Flexibilitätsprogramm)
Gesamtersparnis: rund 600–650 € pro Jahr*– ohne Komfortverlust, aber mit echter Systemwirkung.

Vorteile für Stadtwerke

Es gewinnen nicht nur loyale, digital eingebundene KundInnen, sondern kann Netzengpässe glätten, Flexibilitätsprodukte an der Börse vermarkten und seine Rolle als innovativer Dienstleister stärken. Besonders spannend: In Summe könnten bidirektionale E-Autos künftig mehrere Megawatt an Regelenergie liefern – verteilt auf tausende Fahrzeuge, ganz ohne neue Netzausbaukosten.
Groß gedacht, könnte bidirektionales Laden auch Netzausbaukosten reduzieren helfen. Durch die Nutzung vorhandener Batteriekapazitäten kann der Bedarf an teuren Netzausbaumaßnahmen gesenkt werden. Weiterhin könnte es auch zu einer Verringerung des Bedarfs an zusätzlichen Speicherkapazitäten führen.

Laut einer Studie der Fraunhofer ISI& ISE könnten bis zum Jahr 2040 durch die breite Einführung des bidirektionalen Ladens die jährlichen Energiesystemkosten in der EU um 8,6 Prozent gesenkt werden, was Einsparungen in Höhe von 22,2 Milliarden Euro pro Jahr .
Voraussetzung dafür ist ein funktionierendes Abrechnungssystem und natürlich eine kritische Masse an Fahrzeugen, die bidirektional laden können.

Technische Voraussetzungen für bidirektionales Laden

Die Grundvoraussetzung ist eine bidirektionale Wallbox und geeignete Batterien, um die Energieflüsse zu orchestrieren. Damit das E-Auto seiner ursprünglichen Aufgabe, des Transports von A nach B nachkommen kann, bedarf es außerdem eines gut durchdachten und funktionierenden Steuerungssystems, um nur Fahrzeuge anzuzapfen, die genug Reserve in den Batterien bereithalten.
Eine flexiblere Lösung bieten Fahrzeuge, die V2L unterstützen. Auch hier ist eine Umwandlung von Gleichstrom zu Wechselstrom notwendig, jedoch wird keine spezielle Wallbox benötigt. Stattdessen kann das Endgerät direkt über ein Kabel mit dem Fahrzeug verbunden werden. Die hierfür notwendige Umwandlung übernimmt ein im Fahrzeug integrierter Wechselrichter.

Der regulatorische Rahmen für bidirektionales Laden

In Deutschland ist das bidirektionale Laden grundsätzlich zulässig. Bereits 2019 wurde die EU-Richtlinie 2014/94/EU zur Förderung der Infrastruktur für alternative Kraftstoffe in nationales Recht überführt. Damit wurde auch der rechtliche Grundstein für das bidirektionale Laden als Bestandteil der Elektromobilität gelegt. Allerdings existiert bislang kein praxistaugliches Verbrauchsverrechnungssystem, das eine umfassende VV2G-Nutzung zur Entlastung des öffentlichen Stromnetzes ermöglicht.

Die rechtlichen Grundlagen für bidirektionales Laden ergeben sich vor allem aus dem Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) sowie der Niederspannungsanschlussverordnung (NAV). Letztere regelt die technischen Anforderungen für den Anschluss und Betrieb elektrischer Anlagen im Niederspannungsbereich – darunter auch Ladeeinrichtungen für Elektrofahrzeuge.

Wichtig ist dabei: Nicht alle Ladestationen und Elektrofahrzeuge unterstützen bidirektionales Laden standardmäßig. Die Kompatibilität hängt von den jeweiligen technischen Voraussetzungen ab. Damit zeigt sich das Henne-Ei Problem der Technik.

Technische und regulatorische Hürden

Da beißt die Maus keinen Faden ab: Obwohl die Technik vorhanden ist, stehen der breiten Umsetzung noch einige technische und regulatorische Herausforderungen im Weg:

  • Wechselrichter nötig: Da Elektrofahrzeuge grundsätzlich mit Gleichstrom betrieben werden, während das öffentliche Stromnetz und die meisten elektronischen Geräte auf Wechselstrom basieren, besteht die technische Herausforderung darin, den Strom in beide Richtungen zwischen Gleich- und Wechselstrom umzuwandeln. Diese Funktion übernehmen spezielle Umrichter, die in der Wallbox und teilweise im Fahrzeug verbaut sind.
  • Nicht jede Wallbox und jedes Auto ist kompatibel: Es wird spezielle Hardware sowohl im Fahrzeug als auch in der Ladeinfrastruktur benötigt. Die derzeit noch begrenzte Verfügbarkeit solcher Systeme führt zu hohen Anschaffungskosten.
  • Batterielebensdauer: Durch das wiederholte Be- und Entladen der Fahrzeugbatterie kann sich deren Verschleiß erhöhen, was sich negativ auf die Lebensdauer auswirken kann. Wie stark diese Effekte tatsächlich sind, hängt vom konkreten Einsatzszenario ab und lässt sich derzeit noch nicht abschließend bewerten.
  • Doppelbesteuerung: Bisher fallen sowohl beim Einspeisen als auch beim Rückspeisen von Strom ins Netz Steuern und Abgaben an, was die Wirtschaftlichkeit für VerbraucherInnen mindert.
  • Fehlende gesetzliche Definitionen: Im Elektromobilitätsgesetz und der Ladesäulenverordnung fehlen bisher klare Regelungen für bidirektionales Laden.
  • Unklare Rolle von Elektrofahrzeugen: Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) berücksichtigt Elektrofahrzeuge nicht als mobile Speicher.
  • Auch weitere Detailfragen gilt es zu klären, etwa, wie der Fiskus mit damit umgeht, wenn ein E-Auto steuerbegünstigt beim Arbeitgeber aufgeladen und der Strom anschließend gegen Geld wieder ins Netz eingespeist wird.

Baustelle Abrechnung

Die Abrechnung mit dem Stromversorger für den abgegebenen Strom ist bisher eine Herausforderung. Dafür gilt es zu prüfen, ob nicht bereits eingesetzte Lösungen, z.B. für die Einspeisung von Strom aus Photovoltaik gibt, an die Elektromobilität anpassen. Diese Unsicherheiten erschweren bisher Investitionen und die Entwicklung entsprechender Geschäftsmodelle.

Fazit

Bidirektionales Laden kann sowohl VerbraucherInnen als auch Stadtwerken erhebliche Vorteile bieten. Klar ist: Noch ist es Zukunftsmusik und es ist wünschenswert, dass die neue Bundesregierung weiter regulatorische Klarheit schafft, um bidirektionales Laden zu ermöglichen. Damit würden auch mehr E-Auto Hersteller angeregt, die technischen Voraussetzungen für bidirektionales Laden als Standard einzubauen.

Stadtwerke, die frühzeitig in diese Technologie investieren und entsprechende Angebote entwickeln, können sich als Vorreiter der Energiewende positionieren und langfristig von den Vorteilen profitieren. Es gibt bereits zahlreiche Unternehmen und Partner, die dafür intelligente und erprobte Anwendungen zur Verfügung stellen.

Trotz der theoretischen Möglichkeit, erneuerbare Energien effizienter zu integrieren, das Stromnetz zu stabilisieren und neue Geschäftsmodelle zu eröffnen, sollte bidirektionales Laden nicht überbewertet werden. Schließlich ist eine gewisse Durchdringung des Marktes mit E-Autos eine Voraussetzung, was ein Vertrauen in die Technik und das Funktionieren des Geschäftsmodells voraussetzt. Dennoch sollte man das Potenzial nicht unterschätzen. Ich selbst bin sehr gespannt, was in einem Blogbeitrag stehen wird, den ich zu dem Thema in einem Jahr schreiben werde.

Dr. Constanze Adolf

Senior Managerin Energiewirtschaft
Constanze Adolf ist promovierte Bankkauffrau mit internationalem Studium und über 16 Jahren Erfahrung in Brüssel, wo sie sich auf EU-Energiepolitik, nachhaltige Finanzstrategien und Umweltökonomik spezialisierte. Nach Stationen in einem Energiespeicher-Start-up und leitenden Rollen in Beratungsfirmen ist sie seit Oktober 2024 als Senior Managerin bei der items GmbH & Co. KG tätig. Dort baut sie den Bereich „Energiewirtschaft: Strategie & Wissen“ mit auf und ist für das Berliner Büro zuständig. Ziel des Stabs ist es, die zunehmende regulatorische Komplexität zu antizipieren und fundiert einzuordnen, um sie in strategische Beratungsleistungen zu übersetzen.
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