Auf der Suche nach dem Best-Practice
Wie machen wir die Stromnetze fit für die Energiewende? Wie kommen die Netzbetreiber an ausreichend Kapital, um die Stromnetze zu ertüchtigen? Welche Grenzen setzt der regulatorische Rahmen den Netzbetreibern und mit welchen Netzausbauszenarien muss ein Netzbetreiber rechnen? Es gibt vermutlich tausend Fragen, die sich Netzbetreiber stellen und ebenso viele Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, wenn es um die Ertüchtigung des Stromnetzes zur Umsetzung der Energiewende geht.
Ein Best-Practice-Ansatz ist sicherlich noch nicht gefunden und so experimentieren viele Stromnetzbetreiber mit unterschiedlichen Lösungsansätzen und Vorgehensweisen in der Hoffnung, dass die Maßnahmen zur Ertüchtigung des Netzes ausreichen. Gleichzeitig haben wir nun Ende 2023 die Leitplanken für den Betrieb des Niederspannungsnetzes durch den Beschluss des § 14 a erhalten, der den schrittweisen Aufbau eines digitalen Verteilnetzes vorsieht, in dem sogenannte steuerbare Verbraucher auf Hausanschlussebene in ihrer Leistung gedimmt werden sollen, sofern netzkritische Situationen auftreten und keine alternativen Maßnahmen mehr zur Verfügung stehen.
Da wir uns noch am Anfang des Umbaus der Stromnetze befinden, ist es auch schwer zu sagen, welcher Lösungsansatz nun der richtige oder der falsche sein wird, weshalb ein sehr vielfältiges und heterogenes Vorgehen der Netzbetreiber zu beobachten ist, auch wenn der § 14 a bereits seit dem 01.01. in Kraft ist.
Aus diesem Grund soll der vorliegende Newsletterbeitrag dazu dienen, die verschiedenen Strategieansätze in einer kurzen Übersicht zusammenzustellen und auf die unterschiedlichen Gedankengänge der einzelnen Strategieansätze einzugehen. Im Ergebnis soll dem Leser ein kurzer, prägnanter Überblick gegeben werden, worüber in der Branche diskutiert wird, wobei natürlich die Diskussion zwischen dem notwendigen physischen Netzausbau und Digitalisierungsmaßnahmen in unterschiedlichen Ausprägungen im Mittelpunkt steht.
Kupferzentrierte-Lösungsansätze
Der kupferzentrierte Lösungsansatz basiert auf der Vorgehensweise der Vergangenheit. Dabei erfolgte die Netzertüchtigung primär durch den physischen Netzausbau. Digitalisierungsmaßnahmen spielen bei diesen Netzertüchtigungsmaßnahmen eine untergeordnete Rolle. Die Netzertüchtigung erfolgt in der Regel auf Basis von Prognosen, die auf historischen Daten und dem aktuell gültigen Regelwerk basieren. Die Planung der Netzertüchtigungsmaßnahmen erfolgt i.d.R. mit einer großzügigen Überdimensionierung im Verteilnetz, so dass eine (digitale) Überwachung nur in begrenztem Umfang notwendig ist, da keine kritischen Netzzustände auftreten, da die Netzdimensionierung immer von Extremsituationen ausgeht.
Mit Blick auf die aktuelle Regulierung folgt ein kupferzentrierter Lösungsansatz dem Gedanken der Netzentgeltregulierung, die den Ausbau der physischen Netzertüchtigung mit einer höheren Rendite belohnt als Digitalisierungsmaßnahmen, die Betriebs- und keine Investitionskosten verursachen. Digitalisierungsmaßnahmen beschränken sich in diesen Lösungsansätzen primär auf regulatorische Notwendigkeiten wie den Rollout von intelligenten Messsystemen (iMS) oder die Umsetzung der technischen Vorgaben zur Steuerung im Niederspannungsnetz (§ 14 a EnWG). Auf operativer Ebene werden die zusätzlichen Informationen und Möglichkeiten jedoch nur begrenzt genutzt, da aufgrund der Überdimensionierung keine Notwendigkeit zur Lastreduzierung im Niederspannungsnetz besteht. Generell kann daher von einer Kupfer-First-Strategie gesprochen werden. Da der § 14 a jedoch den verstärkten Einsatz eines digitalisierten Netzmonitorings vorsieht und die BNetzA über eine stärkere Berücksichtigung von Digitalisierungsmaßnahmen in der Regulierung diskutiert, dürfte eine Kupfer-First-Strategie eher ein Auslaufmodell sein.
Kupfer-Marktsignal-Strategie
Als weitere Strategie für Kupfer-zentrierte-Lösungsansätze kann eine Kupfer-Marktsignal-Strategie gesehen werden. Hierbei verfolgt der Netzbetreiber weiterhin den Ansatz die Anforderungen an das Stromnetz durch den physischen Netzausbau zu lösen. Allerdings bedient er sich weiterer physischer Eingriffsinstrumente wie der Spitzenlastkappung, um die nächste physische Netzertüchtigung weiter hinauszuzögern. Als zusätzliche Ergänzung greift der Netzbetreiber auf das Anreizsystem der Marktsignale im Verteilnetz zurück, indem er durch dynamische Netzentgelte versucht die Auslastung im Stromnetz so zu verlagern, dass der physische Netzausbau weiter in die Zukunft verlagert werden kann.
Ein erster Baustein für dynamische Netzentgelte dürfte das Modul 3 für steuerbare Verbrauchseinrichtungen nach dem § 14a EnWG ab 2025 sein, welches die Einführung stündlicher Netzentgeltpreise in drei Tarifstufen vorsieht, wobei die Festlegung der Tarifstufen noch nicht dynamisch auf Basis der Ertragslage der EE-Anlagen erfolgt, sondern in Form einer jährlichen Festlegung.
Die De-Minimis-Digitalisierungsstrategie
Anstatt ausschließlich kupferzentrierte Lösungsansätze zu priorisieren, bei denen die gesetzlich zu erhebenden Netzzustandsinformationen in den Prozessen nicht wirklich genutzt werden, verfolgt die De-minimis-Digitalisierungsstrategie einen erweiterten Ansatz. Zwar setzt die Strategie weiterhin auf den physischen Netzausbau, jedoch werden die Informationen aus dem iMS-Rollout und dem § 14a aktiv in die Prozesse eingebunden, um den physischen Netzausbau durch Digitalisierungsmaßnahmen aktiv zu begrenzen.
Zwar wird auch in diesem Fall kein vollautomatisiertes Niederspannungsnetz aufgebaut, jedoch nutzt der verantwortliche Netzbetreiber aktiv die Informationen aus seinem Netz, um bestimmte Netzabschnitte zu überwachen und durch Eingriffe aktiv zu steuern, um eine Netzüberlastung zu vermeiden. Die Art und Weise, wie der Netzbetreiber sein Netz steuert, ändert sich somit von einer passiven Netzsteuerung zu einer aktiven Netzsteuerung.
Aus Sicht des Netzbetreibers kann dies ein sehr sinnvoller Ansatz sein, da er im Kern noch von der Regulierung in Verbindung mit einer besseren Kapitalverzinsung profitiert und gleichzeitig der Tatsache Rechnung trägt, dass die eigenen Systeme, Strukturen und Organisationen noch nicht so weit sind, dass eine automatisierte Netzführung im Verteilnetz überhaupt möglich wäre.
Die Digitalisierung des eigenen Stromnetzes erfolgt daher partiell und auf Basis der prognostizierten bzw. gemessenen Netzlast. Diese Strategie kann als Ausgangsbasis genutzt werden, wenn eine weitergehende Digitalisierung technisch notwendig oder regulatorisch, z.B. durch § 14a, gefordert wird.
Die integrierte Netzplanungsstrategie
Unabhängig vom Grad der Digitalisierung ist eine effiziente Netzplanung entscheidend für den Netzausbau. Eine effiziente Netzplanung im Verteilnetz erfordert einen ganzheitlichen Ansatz, der die zunehmende Integration erneuerbarer Energien und dezentraler Erzeugungsquellen berücksichtigt. Sie sollte flexibel genug sein, um auf sich ändernde Anforderungen reagieren zu können, die Verteilnetze optimieren und die Integration von Speicherlösungen und Smart Grid-Technologien ermöglichen, um die Netzauslastung und -stabilität zu gewährleisten.
Mit Blick auf die zukünftige Stromnetzplanung reicht eine reine Betrachtung der Entwicklung im Stromsektor nicht mehr aus. Gerade durch die kommunale Wärmeplanung und weitere Planungsinstrumente (z.B. Regionalplanung im Bereich Strom) ist eine Verschränkung der verschiedenen Netzplanungen zwingend erforderlich.
Grundlage für eine integrierte Netzplanung ist daher ein einheitliches Datenmodell, das die wechselseitigen Anforderungen und Einflüsse der jeweiligen Sparten berücksichtigt. Hier stehen viele Versorger jedoch vor der Herausforderung, dass ein solches Datenmodell nicht existiert und eine Vielzahl von Systemen mit unterschiedlicher Datenqualität im Einsatz sind. Somit ist eine integrierte Netzplanung nicht nur mit organisatorischen Veränderungen verbunden, sondern auch mit der Bereitstellung einer einheitlichen Datenbasis, um unterschiedliche Planungen / Annahmen in den jeweiligen Sektoren bei der Bewertung von Wechselwirkungen / Einflüssen eines anderen Sektors zu vermeiden.
Die Strategie der integrierten Netzplanung steht somit weniger im Konflikt zwischen der Frage, ob der Netzausbau physisch oder digital erfolgen soll, sondern liefert die Grundlage dafür, dass der Bedarf für einen physischen Netzausbau ermittelt werden kann bzw. digitale Lösungsansätze die Datengrundlage erhalten, um effektiv arbeiten zu können.
Monitoring mit dem Fokus der Niederspannungsnetzleitwarte
Neben der Frage des physischen Netzausbaus oder der Etablierung einer integrierte Netzplanung beschäftigen sich einige Netzbetreiber mit dem Aufbau einer Niederspannungsnetzleitwarte. Was genau unter dieser Art von Leitwarte verstanden wird und welchen Funktionsumfang diese erfüllen soll, kann im Allgemeinen nicht beantwortet werden, da keine einheitliche Definition existiert.
Allgemein könnte man sagen, dass es sich bei einer Niederspannungsnetzleitwarte um eine Einrichtung zur Überwachung und Steuerung des Niederspannungsnetzes handelt, welche den reibungslosen Betrieb, die Stabilität und die Effizienz der Stromversorgung in diesem Bereich sicherstellen soll.
Grundsätzlich stellt sich jedoch die Frage, welche Informationen in dieser Leitwarte auflaufen sollen und welchen Aufgabenschwerpunkte zu erfüllen sind: das Monitoren oder auch das Steuern. Gerade die Vielfältigkeit und hohe Anzahl der Assets im Niederspannungsnetz führt dazu, dass eine Vielzahl von Informationen übermittelt werden könnte (bei einem hohen Digitalisierungsgrad) und die Informationsflut entweder das System aus technischer Sicht oder den Anwender durch die Vielzahl an Handlungs- und Bewertungsmöglichkeiten überfordern könnte.
Aus diesem Grund setzen sich die Netzbetreiber, welche eine Niederspannungsnetzleitwarte etablieren wollen, intensiv mit der Frage auseinander, welchen Funktionsumfang und Zweck die Art der Leitwarte erfüllen soll.
Persönlich gehe ich davon aus, dass der menschliche Operator nur in begrenztem Umfang eine aktive Netzführung durchführen kann und die Messwerte an der Ortsnetzstation das Maximum sind, was der menschliche Operator verarbeiten kann. Aufgrund der Vielzahl von Betriebsmitteln und Wechselwirkungen innerhalb eines Netzabschnittes und der Notwendigkeit einer schnellen Reaktion in kritischen Situationen wäre der Mensch mit der alleinigen Netzführung auch überfordert, weshalb ein hoher Automatisierungsgrad erforderlich wäre. Hier stellt sich aber auch die Frage, ob die Überwachungs- und Steuerungsaufgaben zentral oder dezentral durchgeführt werden sollen. Gerade im letzteren Fall wäre eine Niederspannungsnetzleitstelle nur in sehr begrenztem Umfang erforderlich.
Full-Digitalisierungsstrategien
Alternativ zum physischen Netzausbau kann der Netzbetreiber auch versuchen, den physischen Netzausbau durch einen hohen Automatisierungsgrad auf Basis von Digitalisierungsmaßnahmen zu vermeiden. Wie das vollautomatisierte Netz aussehen könnte, dazu gibt es verschiedene Ansätze, die in der Branche diskutiert werden.
Ein Baustein könnte eine zentrale, vollautomatisierte Niederspannungsnetzleitstelle sein, die zentral alle Netzzustandsdaten erhält und mit einem unterlagerten Netzmodell die Zustandsbewertung durchführt und in kritischen Situationen stabilisierende Maßnahmen einleitet.
Alternativ kann die Netzführung auch dezentral über autarke Netzstränge erfolgen. In diesem Fall fungiert die Ortsnetzstation als Knotenpunkt, der den Netzzustand der eigenen Abgänge überwacht und bei Bedarf netzstützende Maßnahmen einleitet oder Informationen an andere Betriebsmittel weitergibt. Durch den autarken Betrieb wird die Resilienz des Systems erhöht. Zusätzlich kann eine zentrale Überwachung über eine Netzleitstelle erfolgen, wobei die Entscheidungen vor Ort getroffen werden.
Fazit
Wie das Stromnetzmanagement in einigen Jahren aussehen wird, um die Energiewende im eigenen Stromnetz möglichst effizient umsetzen zu können, können wir heute wahrscheinlich noch nicht sagen. Wir sehen aber, dass in der Branche intensiv über verschiedene Lösungsansätze diskutiert wird. Die Entscheidungen der BNetzA zum § 14a beschleunigen die Diskussion und die Notwendigkeit enorm, wenn spätestens ab 2029 die netzdienliche Steuerung zum Branchenstandard werden soll. Welcher Ansatz am Ende zielführend sein wird, lässt sich heute noch nicht abschätzen. Dies wird zum Teil auch von der historischen Entwicklung der jeweiligen lokalen Netzinfrastruktur abhängen. Der Digitalisierungsgrad des Netzes wird jedoch durch den Rollout und die Vorgaben des § 14a zunehmen.
Darüber hinaus ist es nicht erforderlich, dass sich die Netzbetreiber auf eine einzelne der vorgestellten Strategien konzentrieren. Vielmehr ist von einer Kombination auszugehen, die durch ein iteratives Vorgehen etabliert wird – z.B. um perspektivisch ein möglichst hoch automatisiertes Niederspannungsnetz zu erreichen.
Aktuell sehen wir die Tendenz, dass die Vorgehensweise des Netzbetreibers stark vom Mindset und Hintergrund der Mitarbeiter des Netzbetreibers abhängt. Dies ist nicht verwunderlich, da wir als Menschen eine Organisation prägen. Je nachdem, welche Annahmen die Netzbetreiber treffen und wie sie in ihren Kompetenzen ausgeprägt sind, fällt die Wahl auf die eigene Netzstrategie Strom.
Aus meiner Sicht würde ich sagen, dass Versorger, die unter akutem Personalmangel leiden, weiterhin die konventionelle Strategie verfolgen, da die notwendigen Ressourcen fehlen, um die Organisation auf neue Strukturen, Prozesse, Abläufe etc. vorzubereiten. Netzbetreiber, die stärker in die Umsetzung der Nahwärmeplanung eingebunden sind, beschäftigen sich hingegen verstärkt mit der Thematik einer einheitlichen Datenbasis für die Netzplanung, da erstmals eine spartenübergreifende Planung erstellt werden muss.
Der Aufbau eines hochautomatisierten Niederspannungsnetzes ist derzeit noch weniger am Markt zu beobachten. Zum einen fehlt möglicherweise das Kapital für die Umsetzung, vor allem aber verfügen die Netzbetreiber derzeit noch nicht über die notwendige IT-Landschaft und Datenbasis, um die Vision eines vollautomatisierten Netzes überhaupt umsetzen zu können. Aus diesem Grund dürfte der Übergang zu einer stärkeren Digitalisierung nur schrittweise erfolgen, wobei der Grad der Ausprägung noch offen ist. Allerdings hat die Entscheidung zu §14a die Netzbetreiber bereits jetzt dazu veranlasst, sich verstärkt mit der Konzeption eines digitalisierten Stromnetzes zu befassen und sich intensiver mit der IT-Architektur auseinanderzusetzen.