Stromverbrauchsprognosen: Das Mittel gegen steigende Energiepreise

26. Januar 2022

Steigende Energiepreise mit Insolvenzen von Energielieferanten und sogar die erste Geschäftsaufgabe eines Grundversorgers haben die Branche in Aufruhr versetzt. Selbst die Politik lässt das Thema nicht kalt, weswegen auf europäischer Ebene unterschiedlichste Maßnahmen diskutiert werden, um die finanziellen Auswirkungen auf die Bürger zu begrenzen. Einige europäische Staaten warten nicht mehr ab und setzen bereits jetzt erste Ad-hoc-Maßnahmen um, um die steigende wirtschaftliche Belastung der Bürgerinnen und Bürger zu begrenzen.

Für den sich schon heute im Wettbewerb befindenden Energielieferanten, der mit sinkenden Margen zu kämpfen hat, bedingen die steigenden Energiepreise nun eine erhöhte Komplexität in der Beschaffung, weswegen die Zuverlässigkeit der eigenen Stromprognose zunehmend an Bedeutung gewinnt. Eine zuverlässige Prognose bedeutet in diesem Zusammenhang, den Einkauf überflüssiger oder kurzfristig zu beschaffenden Strommengen zu überhöhten Preisen zu vermeiden und Planungssicherheit für den Vertrieb zu schaffen.

Die primären Beschaffungskosten, die für den Energielieferanten den volatilsten Teil des Gesamtstrompreises ausmachen, sollen auf Basis kurzfristiger sowie langfristiger Stromverbrauchsprognosen verbessert werden. Die kurzfristige Stromprognose fokussiert sich auf die kurzfristigen Preis- und Bedarfsschwankungen am Day-Ahead-Markt, während sich die langfristige Prognose mehr mit den zukünftigen Einflüssen des Marktes, wie z. B. den Auswirkungen verschärfter Klimaziele, auf den langfristigen Strombedarf beschäftigt. Da letzteres deutlich schwieriger zu prognostizieren ist, wollen wir in diesem Blogbeitrag den Fokus auf die kurzfristige Stromverbrauchsprognose legen, die Energielieferanten heute einsetzen, um ihre Planungen am Day-Ahead-Markt zu optimieren. Wir gehen auf den Aufbau von Prognose-Algorithmen ein und zeigen, welche Datenbasis erforderlich ist.

Prognosen für den Day-Ahead-Markt

Die unterschiedlichen Handelsfristen an den Strommärkten ermöglichen es den Marktteilnehmern, durch eine genaue Prognose des Strombedarfs in ihrem Versorgungsgebiet und daraus abgeleiteten Handlungen, die Beschaffungspreise zu senken. Insbesondere im Bereich der Day-Ahead-Auktionen (EXAA und EPEX Spot) gibt es ein enormes Potenzial, die benötigte Ausgleichsenergie frühzeitig zu erwerben und Kosten im Day-After-Handel zu minimieren.

Maschinelles Lernen (ML) – das Update mit Potenzial

In Zeiten nie da gewesener Rechenleistungen bieten sich für die Prognose Machine-Learning-Algorithmen an, die mit Hilfe historischer Daten in kurzer Zeit passgenaue mathematische Modelle erzeugen, diese (kreuz-)validieren, eine (a priori-)Fehlerabschätzung geben können und dabei eine Vielzahl weiterer Daten berücksichtigen. Diese Weiterentwicklungen der klassischen Regressionsverfahren bieten eine potenziell höhere Prognosegenauigkeit und bessere Resilienz gegen Abweichungen in den Eingabewerten als zum Beispiel Wetterprognosen, die naturgemäß fehlerbehaftet sind.

Ein weiterer Vorteil der ML-Algorithmen ist die Objektivität. Während Menschen dazu tendieren, beim Handeln mit jeglichen Anlagegütern in Panik zu geraten (neumodern: FOMO oder FUD) oder gewisse Signale überzubewerten, sind ML-Algorithmen gegen diese Phänomene immun und treffen ihre Entscheidungen auf Basis rationaler Korrelationskoeffizienten. Dies heißt allerdings nicht, dass ein solcher ML-Algorithmus immer jede menschengemachte Prognose übertreffen muss, da dieser seine Informationen nur aus dem historischen Datensatz bezieht und nur die externen Quellen hinzuziehen kann, die ihm auch zugeführt werden und die auch in den historischen Daten abgebildet sind.

Daher kann diese Form der künstlichen Intelligenz das Portfoliomanagement natürlich nicht gänzlich ersetzen, aber eine essenzielle Entscheidungshilfe leisten, um die letzten Prozentpunkte der Prognosegenauigkeit einzusammeln. In Zeiten der gemäßigten Energiepreise war die Amortisation einer solchen Ergänzung eventuell nur langwierig bis mittelfristig absehbar. Mit zunehmender Verfügbarkeit, geringeren Kosten von hohen Rechenkapazitäten und dem beschleunigten Ansteigen der Energiekosten hat sich der Break-Even-Point aber bereits jetzt absehbar nach vorn verschoben. Darüber hinaus liegen viele Vorteile in der Automatisierung des Planungsprozesses, wie der sehr schnellen Anpassung der Modelle an Markt- und Verhaltensänderungen durch ein permanentes Weiter- bzw. Neulernen.

Konzeption und Umsetzung

In der Praxis hat sich eine Konzeptionsphase (PoC = Proof of Concept) etabliert, in der dem Dienstleister ein historischer Datensatz zur Verfügung gestellt wird. Nach Bereinigung und Analyse der Daten erfolgt ein (automatisierter) Austausch der bisherigen Prognosen und der durch den ML-Algorithmus erstellen Vorhersagen. Dies bietet beiden Seiten die Möglichkeit festzustellen, ob eine Verbesserung der Prognose vorliegt und ob eine vorher festgelegte Kennzahl (KPI = Key Perfomance Indicator) erreicht wird. Hierbei ist zu beachten, dass es gerade in der Frühphase noch zu Schwankungen durch Fehler bei Datenübertragungen oder Fehlinterpretation von Fehl- oder Statuswerten kommen kann. Bei Erreichen der vordefinierten Ziele ist ein fließender Übergang in den Live-Betrieb und eine Tiefenintegration in die bisherigen Bestandssysteme möglich.

Weiterentwicklung und Ausblick

Der Übergang in den Live-Betrieb bedeutet bei Weitem noch nicht das Ende des Entwicklungsvorgangs. Um neue Entwicklungen im Energiemarkt (z. B. durch Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes oder Inkrafttreten neuer Regelungen, Fortschritt der Netzinfrastruktur, Auswirkungen der Corona-Pandemie) abzubilden, müssen stetig neue Datenquellen angebunden werden. Des Weiteren sind auch aktuelle Entwicklungen in technologischer Hinsicht zu berücksichtigen, da es nicht den einen ML-Algorithmus gibt, der alles kann, sondern eher einen ganzen Zoo mit mehr oder weniger artverwandten Evolutionsstufen.

Diese Live-Updates werden per CI/CD (Continuous Integration/Continuous Deployment) während des laufenden Betriebs eingespielt und beeinflussen diesen in der Regel nicht. So können Synergieeffekte erzeugt werden, die allen Anwendern nutzen.

Anforderungscheckliste: für den PoC

  • Historische Stromverbrauchsdaten mit Statuswerten auf 15-Minuten- oder Stundenbasis, aggregiert auf Vermarktungsgebiete oder als Einzelzeitreihen über einen Zeitraum von mindestens 2-3 Jahren
  • Tägliche Exporte der Stromverbrauchsdaten mit Statuswerten auf 15-Minuten- oder Stundenbasis (übereinstimmend mit dem Zeitintervall der historischen Daten) per .csv und E-Mail oder über alle anderen standardisierten Schnittstellen (z. B: REST API) müssen möglich sein
  • Falls möglich: Angaben zu Standorten der Abnehmer (Postleitzahl oder Bundesland)
  • Auf Wunsch eigene Wetterdaten mit Wetterprognosen (nur in Kombination)
  • Angabe eines Zeitpunktes, zu dem die Prognose ausgeliefert werden soll
  • Angabe, wie die Prognose ausgeliefert werden soll (Schnittstelle, Datenbank, E-Mail)
  • Aktuelle Prognosegenauigkeit (z. B. 90-92% mittlere prozentuale betragsmäßige Abweichung oder absolute betragsmäßige Abweichung) und exakte Berechnungslogik
  • Gewünschte Prognosegenauigkeit (z. B. 93-95% prozentuale betragsmäßige Abweichung) mit derselben Berechnungslogik

Dr. Mark Feldmann

Data-Scientist
Mark Feldmann ist Data-Scientist und Product Owner für das Produkt Grid Insight: Heat. Sein Schwerpunkt liegt in der Entwicklung und Verwendung von künstlicher Intelligenz sowie dem maschinellen Lernen. Auf Basis seines umfangreichen mathematischen Hintergrundwissens erstellt und optimiert er die zugrunde liegenden Logiken der Softwareprodukte, um bestmögliche Ergebnisse unter Verwendung der aktuellsten Methoden zu kreieren. In Zusammenarbeit mit dem Entwicklungsteam erarbeitet er Darstellungsmöglichkeiten und Datenstrukturen, um das erzeugte Wissen dem Kunden möglichst verständlich und übersichtlich darzustellen.