Strommasten im Sonnenuntergang

Redispatch 2.0 Ausfallarbeit – eine Erläuterung der Grundlagen (Aufforderungs- und Duldungsfall etc.)

4. August 2021

Redispatch 2.0 Ausfallarbeit: Hintergrund

Das Thema Redispatch 2.0 rückt mit der Umsetzung des Einführungsszenarios ab dem 1. Juli immer mehr in den Fokus der Energiewirtschaft. Hierbei sind viele neue Prozesse im EVU zu etablieren, technische Grundlagen zu schaffen und das Thema Redispatch 2.0 immer weiter zu verstehen. Nach ersten Einblicken in unseren bereits vorliegenden Blogbeiträgen zum Thema Redispatch 2.0, den unterschiedlichen technischen Ressourcen und IDs sowie dem Redispatch 2.0 Einführungsszenario, widmen wir uns in diesem Beitrag nun den energiewirtschaftlichen Grundlagen zum Thema Redispatch 2.0 Ausfallarbeit. Dabei soll es darum gehen, was unter dem Begriff Ausfallarbeit zu verstehen ist, wie diese entsteht und die damit verbundenen Steuerungsprozesse (Aufforderungs- und Duldungsfall), Abrechnungsvarianten und Bilanzierungsmodelle (Prognose. & Planwertmodell) funktionieren.

Redispatch 2.0 Ausfallarbeit: Der Ausgangspunkt

Ausgangspunkt für das Thema Redispatch 2.0 Ausfallarbeit ist das energiewirtschaftliche Verständnis, dass die Beschaffung der Energie auf einer virtuellen, kaufmännischen Basis erfolgt. Eine Abstimmung der physikalischen Begrenzung des Stromnetzes erfolgt in diesem Schritt nicht. In der Praxis müssen daher alle Bilanzkreisverantwortlichen ihre Fahrpläne in Form von ausgeglichenen Bilanzkreisen am Vortag bei den zuständigen Bilanzkreiskoordinatoren (ÜNBs) einreichen. Diese führen auf Basis aller eingereichten Bilanzkreise eine Lastflussberechnung durch, um Netzengpässe für den nächsten Tag zu identifizieren. Wird ein physikalischer Engpass festgestellt, erfolgt eine Anweisung an einzelne Anlagenbetreiber, ihre Erzeugung bzw. Verbrauch für den nächsten Tag zu erhöhen bzw. zu drosseln. So kommt es z. B. zu dem berühmten Beispiel, dass Windkraftwerke im Norden des Landes ihre Erzeugung drosseln müssen und Gaskraftwerke im Süden ihre Leistung erhöhen, weil die Netzkapazität von Nord nach Süd nicht ausreicht. Die Folge einer Verlagerung der Erzeugungsleistung durch eine Redispatchmaßnahme kann ein Herauffahren der Anlage bedeuten, was zu einer negativen Ausfallarbeit führt (positiver Redispatch) oder ein Herunterfahren der Anlage, was zu einer positiven Ausfallarbeit führt (negativer Redispatch).

Im Rahmen der Anpassungen Redispatch 2.0 werden nun nicht nur die ÜNBs, sondern auch alle VNBs mit in den Prozess einbezogen sowie eine ganze Reihe neuer Erzeugungsanlagen, im Redispatch 2.0 technische Ressource genannt. Damit eine technische Ressource durch eine Redispatchmaßnahme herauf- oder heruntergefahren werden kann, ist natürlich der Einbezug des Einsatzverantwortlichen und der damit verbundenen technischen Ressource notwendig. Dies erfolgt entweder über den Aufforderungs- oder Duldungsfall, bei dem es zu einer Entstehung der Ausfallarbeit kommt. Aus diesem Grund schauen wir uns das Funktionsprinzip in diesem Blogbeitrag einmal näher an.

Der Aufforderungsfall

Grundvoraussetzung sowohl bei dem Aufforderungs- als auch dem Duldungsfall ist der Einbezug der technischen Ressourcen in den Redispatch 2.0-Prozess, bei dem der Netzbetreiber die Fahrpläne oder Prognosen der Simulation der Lastflussberechnung zur Erkennung von kritischen Netzzuständen miteinbezieht.  Im Rahmen des Aufforderungsfalls erfolgt die Anpassung der Leistung der steuerbaren technischen Ressource nicht direkt über den Netzbetreiber, sondern ist durch den Einsatzverantwortlichen durchzuführen. Hierfür erhält dieser über den Data-Provider seinen neuen Fahrplan über den Netzbetreiber. Da die Information des neuen Fahrplans lediglich eine Prognose des zukünftigen Bedarfs der technischen Ressource darstellt, kann es dann zum Zeitpunkt der Aktivierung der technischen Ressource noch zu Abweichungen der Ausfallarbeit kommen. 

Prozess Abruf im Planwertmodell im Aufforderungsfall (Copyright: BNetzA)

Der Duldungsfall

Im Gegensatz zum Aufforderungsfall ist nicht der Einsatzverantwortliche für die Anpassung der Leistung der technischen Ressource verantwortlich, sondern der Netzbetreiber ist berechtigt, die Schalthandlung direkt auf der technischen Ressource durchzuführen. Der Einsatzverantwortliche wie auch der Betreiber der technischen Ressource müssen den Eingriff des Netzbetreibers „dulden“.  Ob der Aufforderungs- oder Duldungsfall gewählt wird, hängt von den technischen Restriktionen des Netzbetreibers ab. Planbare Anlagen sind dem Duldungsfall zuzuordnen. In der Praxis sollen sich technische Ressourcen mit Rundfunksteuertechnik und technische Ressourcen kleiner 1 MW immer im Duldungsfall befinden. Größere technische Ressourcen können sich auch im Duldungsfall befinden. Ebenso sind Speicher- und Laufwasserkraftwerke im Duldungsfall sowie dargebotsabhängige Anlagen wie Wind- oder PV-Anlagen.

Ausfallarbeit: Bilanzierungsmodell

Nachdem es durch die Durchführung einer Redispatchmaßnahme im Aufforderungs- oder Duldungsfall es zu einer Ausfallarbeit gekommen ist, ist die Menge der Ausfallarbeit zu bilanzieren. Hierfür existieren im Redispatch 2.0 zwei verschiedene Verfahren: das Prognosemodell und das Planwertmodell.

Prognosemodell

Bei dem Prognosemodell handelt es sich um das Standardmodell zur Bilanizerung der Ausfallarbeit. Der Netzbetreiber erstellt im Rahmen des Modells eine Prognose über die Produktion der technischen Ressource, weswegen er die Berechnung der Ausfallarbeit selbst übernimmt. In diesem Kontext bilanziert er, welche Menge als Ausfallarbeit angefallen ist und schickt diese an den Betreiber der technischen Ressource weiter, welcher die Berechnung des Netzbetreibers zu überprüfen hat. Die Übermittlung der Werte erfolgt bis zum 8. Werktag des Folgemonats. Die Menge der Ausfallarbeit überführt der Netzbetreiber zur „Bereinigung der Bilanzkreise“ am Ende in eine sog. Ausfallüberführungszeitreihe (AAÜZ).

Planwertmodell

Im Planwertmodell erfolgt im Gegensatz zum Prognosemodell keine Prognose der technischen Ressource, sondern eine Erfassung und Übermittlung des Fahrplans direkt an den Netzbetreiber. Es liegen somit keine Prognosen, sondern Echtzeitdaten vor! Daher erfolgt die Ermittlung des Fahrplans und der damit verbundenen Ausfallarbeit durch den Betreiber der technischen Ressource selbst. Die Ausfallarbeit ist dem Netzbetreiber zu melden, welcher die Angaben des Betreibers überprüft. Um an dem Planwertmodell mit seiner eigenen technischen Ressource teilnehmen zu können, sind bestimmt Kriterien zu erfüllen, auf die aber in diesem Beitrag nicht näher eingegangen werden soll. Im Anschluss erfolgt nach der Genehmigung der Ausfallarbeit durch den Netzbetreiber der bilanzielle und finanzielle Ausgleich über den Netzbetreiber.

Redispatch 2.0 Ausfallarbeit: Abrechnungsvarianten

Nach erfolgter Bilanzierung muss im Nachgang eine Abrechnung der angefallenen Redispatch 2.0 Ausfallarbeit erfolgen. Hierfür existieren drei verschiedene Abrechnungsvarianten, deren Auswahl von unterschiedlichen Kriterien abhängt.

Spitzabrechnung

Die erste Variante stellt die Spitzabrechnung dar. Hierfür muss der Netzreiber der technischen Ressource bestimmte technische Voraussetzungen erfüllen. Beispielsweise benötigt eine Windkraftanlage zur Berechnung der Ausfallarbeit nach der Spitzabrechnung direkt von der Anlage vor Ort erhobene Wetterdaten, um die potenzielle Ausfallarbeit auf Basis der Wetterdaten berechnen zu können. Hierfür findet bei einer Windkraftanlage die Verknüpfung der Wetterdaten mit der Anlagenkennlinie statt, die am Ende die potenziell mögliche Anlagenleistung ohne die Durchführung der Redispatchmaßnahme angibt. Bei Solaranlagen erfolgt dies nicht über die Messung der Windgeschwindigkeit, sondern über die Messung des Einstrahlleistung der Sonne, während bei nichtflukturierenden Anlagen wie konventionellen und Biomasseanlagen der Fahrplan als Grundlage dient. Vereinfacht ausgedrückt dienen die SCADA-Daten der Anlagensteuerung für die Spitzabrechnung als wesentliche Grundlage zur Abrechnung der Ausfallarbeit.

Spitzabrechnung „light“

Der Unterschied zwischen Spitzabrechnung und Spitzabrechnung „light“ ist die Erfassung aller wesentlichen Informationen zur Berechnung der Ausfallarbeit nicht direkt an der Anlage, sondern z. B. über den Einbezug von Referenzstandorten. Dies kann z. B. die Nutzung der Messtechnik zur Erfassung der Wetterdaten einer benachbarten Windkraftanlage als Referenzstandort sein. Für Solaranlagen können auch die Daten von Wetterdienstleistern genutzt werden. Hier könnte es sich für ein EVU u. a. anbieten, LoRaWAN-Wetterstationen im eigenen Versorgungsgebiet zu installieren und die Messdaten den Betreibern der technischen Ressourcen zu verkaufen, damit diese am Spitzabrechnungsverfahren „light“ und nicht am Pauschalverfahren teilnehmen müssen.

Pauschalverfahren

Das Pauschalverfahren zur Berechnung und Abrechnung der Ausfallarbeit wird immer dann angewendet, wenn die messtechnischen Anforderungen für die Spitzabrechnung oder Spitzabrechnung „light“ nicht erfüllt sind. In diesem Fall erfolgt die Berechnung der Ausfallarbeit über die Betrachtung der erzeugten Energiemenge der letzten Viertelstunde vor der Aktivierung der Redispatchmaßnahme. Die Grundlage hierfür sind die prognostizierten Daten aus dem erstellten Fahrplan.

Insgesamt liegt die Auswahl des Abrechnungsmodells beim Betreiber der technischen Ressource, der die Einhaltung der technischen Mindestanforderungen sicherzustellen hat.

Fazit zum Thema Ausfallarbeit im Redispatch 2.0

Insgesamt handelt es sich bei dem Thema Redispatch 2.0 Ausfallarbeit um ein äußerst komplexes Thema, zu dem in diesem Blogbeitrag die wesentlichen Zusammenhänge dargestellt wurden. Jeder Betreiber einer technischen Ressource muss für sich selbst klären, welches Modell – Aufforderungs- oder Duldungsfall – er präferiert sowie welches Bilanzierungs- und Abrechnungsmodell für ihn am vorteilhaftesten ist. Für Netzbetreiber, Lieferanten und Anlagenbetreiber bedeuten die neuen Prozesse aus dem Redispatch 2.0 im Zusammenhang mit der Thematik Ausfallarbeit einen erhöhten Mehraufwand. Neue Prozesse sind zu etablieren, die verschiedenen Prognose- und Abrechnungsmodelle zu prüfen sowie Systemseitig umzusetzen und in die bestehenden IT- und Prozessinfrastrukturen zu integrieren. Für eine tiefergehende Analyse der vorgestellten Themen ist sicherlich ein Blick in die Leitfäden des BDEW zum Thema Redispatch 2.0 empfehlenswert, wo auch eine visuelle Darstellung der wesentliche Prozesse rund um das Thema Ausfallarbeit zu finden ist.

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Marcel Linnemann

Leitung Innovation & Grundsatzfragen Energiewirtschaft
Marcel Linnemann, Wirt. Ing. Energiewirtschaft, Netzingenieur, ist Leiter Innovation und regulatorische Grundsatzfragen bei items und Autor diverser Fachbücher und -artikel rund um die Thematiken der Energiewirtschaft und der Transformation